11.11.2024, 06:53
Sophomore entwickelt sich zum Superstar
Oklahoma City ist mit sieben Siegen in Serie in die neue Saison gestartet und unterstreicht eindrucksvoll die großen Ambitionen des jungen Teams. Ein Grund dafür ist Chet Holmgren, der zeigt, wie riesig das Potenzial der Thunder ist.
Am späten Abend des 19. Mai 2024 bekam die Euphorie in Oklahoma einen ordentlichen Dämpfer. Mit einem hauchdünnen 117:116 entschieden die Mavs Spiel 6 der Western Conference für sich und besiegelten so das Aus der Thunder, die erstmals seit dem großen Rebuild wieder in die Playoffs vorgedrungen waren.
Abgezockte Mavs, fehlende Erfahrung, schlechtes Rebounding und zu viel offensive Last für Shai Gilgeous-Alexander waren am Ende die Hauptgründe für das Scheitern des jüngsten Nr.1-Seeds aller Zeiten. Trotz seiner überragenden Defensive war auch Holmgren nach der Playoff-Serie nicht frei von Kritik.
Gegen die switchlastige, hart spielende Mavs-Defensive tat der ehemalige Rookie sich schwer. Statt Mismatches zu finden, lief er oft in eine Wand aus mehreren Verteidigern, traf nur etwas mehr als die Hälfte seiner Würfe aus dem Feld und blieb von draußen überraschend blass (22.5 Prozent). Dass er am Ende der vierte Rookie der NBA-Geschichte war (neben David Robinson, Alonzo Mourning und Tim Duncan), der über die ersten acht Spiele 120+ Punkte, 60+ Rebounds und 20+ Blocks auflegte, wird ihm nur wenig Trost gespendet haben. Stattdessen scheint ihm das Playoff-Aus eine Menge Ansporn verliehen zu haben.
Bereits in den ersten Spielen machte Chet eindrucksvoll klar, dass er in dieser Saison auf einer Mission ist. In der Vorsaison war noch davon die Rede, wie gut der Center in das OKC-Konstrukt passen würde, nun scheint Chet das Team Stück für Stück mehr an sich zu reißen. Über die ersten vier Saisonspiele war er neben SGA der Fixpunkt der Offensive und legte 22,5 Punkte im Schnitt auf, darunter drei 20-Punkte-Spiele in Serie. Zum Vergleich: Dieses Kunststück gelang ihm in der kompletten Vorsaison nur ein einziges Mal. (Im Anschluss legte er einige schwächere Partien hin, was zum Teil Foulproblemen und Blowout-Siegen geschuldet war.)
Coach Mark Daigneault lässt regelmäßig die Offensive über ihn laufen, ermöglicht ihm freie Würfe aus der Mitteldistanz und verwickelt ihn in Pick-and-Roll-Situationen, die er aggressiv am Ring abschließt. 7,4 Mal zieht er pro Spiel zum Korb (Platz drei ligaweit) und traf über seine ersten vier dominanten Spiele im Schnitt 5,3 Würfe in direkter Korbnähe (Platz fünf ligaweit), in der Vorsaison waren es noch 1,8 Treffer pro Partie.
Diese Entwicklung öffnet für ihn das Feld merklich. Da Gegenspieler zunehmend Angst vor seinem Drive haben, kann er sich durch seine starke Beinarbeit und seine 2,16 Meter mit hohem Release gute Würfe aus der Mitteldistanz erarbeiten. Hier hatte Chet schon in der Vorsaison für einen Rookie einige beachtliche Moves auf Lager, das Training mit Midrange-Meister Kevin Durant in der Offseason hat aber augenscheinlich seine gewünschte Wirkung erzielt.
Holmgrens neue Aggressivität bestätigt nicht nur der Sehtest, sondern auch seine Zahlen in Sachen Rebounding. Ohne den verletzten Isaiah Hartenstein lässt OKC zwar immer noch die meisten gegnerischen Rebounds der Liga zu, Holmgren selbst geht aber deutlich beherzter zu den Brettern als noch im Vorjahr und hat seinen Schnitt von 7,8 Boards pro Spiel auf 9,8 gesteigert.
Wenn sich seine Dreierquote von derzeit 34,5 Prozent jetzt auch wieder dem Niveau vom Vorjahr annähert (37 Prozent), wird es für gegnerische Defensiven zunehmend schwerer, den 22-Jährigen aufzuhalten.
Defensiv ist Holmgren ohnehin schon über (fast) alle Zweifel erhaben, nicht ohne Grund war er bei den meisten Buchmachern vor der Saison auf Platz zwei im Rennen um den DPOY. Der Sophomore blockt 2,9 Würfe pro Spiel, contestet so gut wie jeden Abschluss (Platz zwei ligaweit) und macht seinen Gegnern mit seinen ellenlangen Armen und seinem guten Positionsspiel das Leben regelmäßig zur Hölle.
Er hält seinen Gegenspieler im direkten Duell bei mageren 40,5 Prozent aus dem Feld. Zu seinen jüngsten Opfern gehören dabei die Quotenmaschinen Nikola Jokic (40 FG% bei 25 Versuchen), Clint Capela (42,9 FG% bei 7 Versuchen) oder Ivica Zubac (33,3 FG% bei 6 Versuchen). Chet hat ein unglaubliches Gespür für das Spiel, liest die Bewegungen der Gegenspieler im Augenwinkel, antizipiert Screens und ist trotz seiner Größe flink genug, um auch kleinere Spieler am Perimeter zu verteidigen.
Dazu macht er auch als Help-Verteidiger einen überragenden Job, was besonders interessant zu beobachten sein wird, wenn Hartenstein wieder zurückkommt. Sein Timing für Blocks ist elitär und kaum ein Spieler hat solch eine Disziplin in der Verteidigung mit ausgestreckten Armen. Wenn er jetzt noch etwas mehr Masse zulegt, wird er auch im Post fast nicht mehr zu überwinden sein.
Apropos Hartenstein. Wenn er wieder fit ist, werden wir wohl viele Possessions mit beiden Bigs auf dem Feld sehen. Dadurch rutscht Holmgren dann auf die Vier und kann noch mehr von der Help Side aushelfen, während der Deutsche sich um die schweren Brocken unterm Korb kümmert. Dass das funktionieren kann, hat die Preseason schon angedeutet. Über 31 gemeinsame Possessions, die die beiden Bigs zusammen auf dem Feld standen, hatte OKC ein irres Defensive Rating von 54,8!
Es ist schwer sich vorzustellen, dass die OKC-Defensive noch besser werden kann, als sie im Moment ist. Mit Chet als Anker in der Mitte plus eine Kombination aus SGA, Lu Dort, Alex Caruso, Cason Wallace, Jalen Williams und Hartenstein sind die Thunder ein defensiver Albtraum. Sie haben jetzt schon das klar beste Defensiv Rating der Liga (96,5, dahinter GSW auf Platz zwei mit 103,8), blocken die meisten Bälle, holen die meisten Steals, deflecten die meisten Bälle und halten Gegenspieler bei der ligaweit niedrigsten Dreierquote (29,5 Prozent).
Wenn Chet die Eindrücke aus den ersten Spielen nun über die Saison hinweg bestätigen kann und offensiv wirklich einen großen Sprung macht, ist er nicht nur in naher Zukunft ein Top-20-Spieler der Liga, sondern macht OKC auch zum klaren Favoriten im umkämpften Westen. Bedenkt man dazu, dass das erst seine zweite Saison ist und die Thunder neben ihm viele weitere junge Spieler haben, die noch vor ihrer Prime stehen, sollte dem Rest der Liga Angst und Bange werden.
In der Nacht auf Montag erlitt der junge Center schließlich aber einen Rückschlag. Beim Drive gegen Andrew Wiggins knallte der 22-Jährige hart auf dem Boden auf und zog sich eine Fraktur am Beckenknochen zu. Er wird voraussichtlich über zwei Monate fehlen.
Gianluca Fraccalvieri