24.09.2024, 08:16
Der am niedrigsten gedraftete MVP aller Zeiten
Vor zehn Jahren gelang den Denver Nuggets der Pick, der ihre Franchise für immer verändern sollte. Dabei planten sie selbst diesen Pick als etwaigen Backup ein, nicht als Game-Changer - und damit waren sie trotzdem noch optimistisch. Wie konnte Nikola Jokic dermaßen durchs Raster fallen?
Das größte Missverständnis muss direkt zum Start aus dem Weg geräumt werden. Die Nuggets und ihr Haupt-"Macher" Tim Connelly wussten nicht, was sie da taten oder wen sie da bekamen, als sie vor nun zehn Jahren an Position 41 einen gewissen Nikola Jokic drafteten.
Beweis gefällig? Er war nicht einmal der erste Balkan-Center, den sie sich an diesem Tag sicherten. Das war Nr.16-Pick Jusuf Nurkic. Connelly hat dies in der Vergangenheit auch selbst schon bestätigt: "Wir wussten nicht, was er ist. Wir hätten ihn sonst nicht an 41 gezogen. Wir hätten hochgetauscht und ihn an Position 1 gepickt."
Heute lässt sich dies natürlich leicht sagen. Obwohl Jokic noch ein Jahr in Europa absolvierte und erst 2015 in die NBA kam, steht er trotz einiger Konkurrenz (Joel Embiid etwa) als bester Spieler seines Jahrgangs fest, ist auf Kurs, mit seinen (bisher) drei MVP-Awards eine der größten Karrieren der Geschichte hinzulegen. Der beste späte Pick der Geschichte ist er längst - mit Ausnahme von Moses Malone (seinem eigenen Sonderfall) gewannen vor Jokic ausschließlich Top-15-Picks die MVP-Awards der NBA-Geschichte. Jokic ist der ultimative Ausreißer.
Was automatisch zur Frage führt: Warum eigentlich? Wie konnte Jokic, ein wandelndes Basketball-Genie, der beste Big-Man-Passer der Geschichte, vor zehn Jahren von allen 30 Teams verschmäht werden, von einigen sogar mehrfach?
Der fachfremde, oberflächliche Blick könnte auf die Idee kommen, dass Jokic abgesehen von seiner Größe nicht wie ein dominanter Basketball-Spieler aussieht und sich auch nicht wie einer bewegt - das ist heute noch der Fall, vor zehn Jahren war es extremer. Augenöffnend wäre dann die Information, dass dieser Eindruck auch die Leute vom Fach abschreckte.
Rafael Juc gilt als der Scout, der Jokic sozusagen entdeckte. Dabei war auch der Pole, der damals selbst erst 20 Jahre alt war, vom ersten Eindruck im Jahr 2012 überhaupt nicht überzeugt: "Als ich ihn das erste Mal sah, dachte ich nie, dass er ein NBA-Spieler sein könnte", sagte Juc selbst zu ESPN. "Es ist eigentlich lächerlich - ich hielt ihn nicht gut genug, um überhaupt Notizen über ihn aufzuschreiben."
Das änderte sich zwar mit der Zeit, als Top-Prospect schätzte auch Juc, der ab 2013 als internationaler Scout für die Nuggets arbeitete, Jokic allerdings nicht ein. In erster Linie aufgrund von oberflächlichen Eindrücken. "Ich bin wahrscheinlich in die Falle getappt, nur nach Athletik zu suchen", erinnerte sich Juc.
In dieser Hinsicht hatte Jokic Defizite - ganz objektiv. Bei P3, dem für NBA-Spieler wichtigsten sportwissenschaftlichen Trainingszentrum der USA, war sich 2014 nach dem Draft - als Jokic‘ Name während einer Taco-Bell-Werbung aufgerufen wurde - niemand sicher, ob dieser wuchtige Serbe überhaupt mal ein NBA-Athlet sein könnte.
Aus dem Stand konnte er 43cm hoch springen; das ist ESPN zufolge der schlechteste Wert, der dort je bei einem NBA-Spieler gemessen wurde. Jokic selbst sagte damals nüchtern, sein Basketball sei "gut", sein Körper aber "nicht so gut", wozu er unter anderem mit 3 Litern Cola am Tag eifrig beigetragen hatte.
Die Nuggets - und alle anderen Teams wohl umso mehr - sahen diese körperlichen Defizite. Sie konnten nur darüber spekulieren, inwieweit der 19-Jährige dazu bereit sein würde, an Ernährung, Physis und Kondition zu arbeiten; das Klischee des Athleten, der jede Sekunde seines Tages seiner Sportart widmet, erfüllte Pferdefreund Jokic auch als junger Mann bereits nicht.
Ein Großteil der Scouting- und NBA-Welt ließ sich durch die untrainierte, teigige Hülle davon ablenken, was den Basketballer unter dieser Oberfläche sonst noch alles ausmachte.
Einen Impact hatte Jokic dabei - irgendwie - schon immer. Sein Agent Misko Raznatovic erzählte einst, dass er nur auf Jokic aufmerksam geworden war, weil er in der Tageszeitung gelesen hatte, dass ein Spieler in der serbischen U18-Liga 29 Punkte und 26 Rebounds in einem Spiel aufgelegt hatte.
Der Chefscout seiner eigenen Agentur kannte Jokic da noch gar nicht. Das Ergebnis einer ersten Recherche: "Er ist nicht stark, aber vielseitig. Ein bisschen übergewichtig, gewieft, aber er hat Talent."
Raznatovic arrangierte damals, ohne Jokic selbst einmal spielen gesehen zu haben, ihn zum von der Agentur BeoBasket kontrollierten Klub Mega Basket zu lotsen. Dort begann Jokic im Alter von 17 Jahren, erstmals unter professionellen Bedingungen zu trainieren, sein Spiel zu entwickeln. Was grundsätzlich aber schon damals existierte, wenn man richtig hinsah.
"Alles, was man jetzt sieht, das war auch schon auf einem niedrigeren Level erkennbar", sagte Connelly 2020. "Man weiß ja nie, wie sich Dinge übersetzen werden und ob Leute in der stärksten Liga ankommen werden. Aber sein Spiel war damals nicht wirklich anders. Es ist jetzt nur sauberer und weiterentwickelt. Aber er war schon immer ein sehr eigener, effektiver Spieler."
Jokic hatte von klein auf ein paar Fähigkeiten, welche die meisten Spieler nie erwerben werden. Er las Situationen unheimlich schnell, antizipierte zwei, drei Aktionen im Voraus und konnte das Spiel dadurch managen wie sonst kaum jemand. Vorm Draft 2014 hoben nahezu alle Scouting Reports seinen "sehr hohen Basketball-IQ" (NBA-Scout Stevan Petrovic) sowie seine Passfähigkeiten hervor.
Es waren durchweg andere Bereiche, welche abschreckten. Die athletischen Defizite, die schwache Defense. An seinen Fähigkeiten als Post-Scorer wurde interessanterweise auch gezweifelt. Beim Bleacher Report war davon die Rede, er könne vielleicht ein Boris Diaw des armen Mannes werden - dies war die optimistische Projektion.
Jokic hat dies über die Jahre alles lächerlich gemacht, weil er sich in all den Bereichen drastisch verbesserte, die 2014 als seine Schwächen galten. Und das in Windeseile. Schon 2015 sah seine Selektion in Runde zwei wie ein möglicher Steal aus, nachdem er 14/15 einen massiven Sprung hinlegte und in seiner Age-19-Saison MVP der Adriatic League wurde.
In der NBA hat er sich weiter konstant verbessert: Der Basketball war, wie er es einst ausgedrückt hatte, ohnehin "gut", der Körper ist es aber überraschenderweise seit Jahren auch. Springen kann Jokic noch immer kaum, dafür verpasst er kaum Spiele und ist trotz seiner Masse einer der best-konditionierten Spieler der gesamten Liga.
War das vorherzusehen? Nein - dafür ist die Entwicklung zu heftig, zu speziell. Es ist nicht nötig, den Experten, die ihn unterschätzten, die Qualifizierung abzusprechen - sie sind schließlich in bester Gesellschaft. Er wurde von allen unterschätzt. Was sein Beispiel zu einer Lektion für die gesamte Scouting-Zunft machen sollte, wie einige finden.
Roy Rana etwa, der Jokic beim Nike Hoop Summit 2014 coachte und selbst nicht gerade überwältigt war, kritisierte (gegenüber ESPN) den Athletik-Bias im Basketball: "Wir übersehen Talent, weil wir nach traditionellen Dingen suchen: Athletik, Größe, Stärke, die Art, wie jemand aussieht. Statt darauf zu achten, welche Skills er hat und ob sich diese übersetzen lassen."
Das ist alles korrekt, und doch … die Wahrscheinlichkeit ist wohl auch tatsächlich höher, dass jemand Erfolg haben wird, der als Prospect die Hardware schon hat und an der Software noch arbeiten muss (etwa: Anthony Edwards). Weil das eine, eigentlich, eher erlernbar erscheint als das andere.
Jokic stellte diese Gleichung auf den Kopf, aber genau das macht ihn ja einzigartig. Was auch bedeutet: Selbst wenn man all die Lektionen seines Beispiels verinnerlicht, wird man höchstwahrscheinlich nicht den nächsten Nikola Jokic finden.
Ole Frerks