30.10.2024, 11:50
Das nicht ganz normale junge Team
Die Houston Rockets haben über ihre ersten vier Saisonspiele (2-2) bereits demonstriert, was von ihnen in dieser Saison zu erwarten ist: Überragende Sequenzen folgten auf haarsträubende Fehler, mehrere Identitäten standen scheinbar in Konkurrenz zueinander. Warum die Texaner eins der interessantesten Teams dieser Spielzeit werden könnten.
Zum Start einer jeden Saison gibt es Teams, über deren Absichten und Chancen man im Vorfeld relativ gut Bescheid weiß - sei es aufgrund ihrer Kontinuität, ihrer Jugend, ihrer Qualität in der Spitze oder was auch immer -, und es gibt diejenigen, die Rätsel aufgeben - etwa, weil sie neu formiert wurden, oder weil sie beispielsweise einen neuen Head Coach haben.
Oder weil sie die Rockets sind. Houston hat gleichzeitig eins der jüngsten Teams der Liga und Playoff-Ambitionen, wie ihr Coach Ime Udoka klargestellt hat. Houston hat allein seit 2021 vier Picks in der Top 4 gezogen, zwei ihrer Top-3-Spieler in Sachen Minuten sind aber 2023 eingekaufte Veteranen - und der bisher beste junge Spieler ihres Neuaufbaus war bloß ein Nr.-16-Pick.
Nicht, dass mit Alperen Sengün alles simpel wäre: Vergangene Saison stand der Türke an der Schwelle zum All-Star, in Phasen sieht das Team aber besser aus, wenn er gar nicht auf dem Court steht. Zu Beginn der neuen Saison setzte Udoka ihn bereits mehrfach auf die Bank, wenn die Spiele eng waren, einmal fast das gesamte Schlussviertel über.
Das sind noch nicht alle Widersprüche, welche bei den Rockets derzeit in die Gleichung mit hineinspielen - eher nur ein kleiner Teil davon. Es liegt nicht zuletzt daran, dass Houston die vielleicht größte Wundertüte der NBA 2024/25 darstellt …
Positiv betrachtet, schwimmen die Rockets im Luxus. Ihr Kader zählt zu den tiefsten der Liga, viele ihrer Talente würden bei anderen Teams, die im Rebuild stecken oder in der Nähe davon sind, garantierte, prominente Rollen sehen. Houston bringt mit Amen Thompson, Tari Eason, Cam Whitmore und Nr.3-Pick Reed Sheppard gleich vier Blue-Chip-Talente von der Bank.
Eine Folge davon ist, dass Houston aggressiv verteidigen kann, das ganze Spiel über. Udoka hatte noch nie ein Problem damit, auch hohe Lottery-Picks direkt wieder auf die Bank zu setzen, wenn der Einsatz nicht stimmt. Dem Coach ist auch bewusst, dass aggressive Defense aktuell der beste Weg für sein junges Team ist, um Spiele zu gewinnen.
"Du kannst nur kontrollieren, was du kontrollieren kannst", erklärte Udoka nach der enttäuschenden Auftaktniederlage gegen Charlotte. "Würfe fallen rein, oder eben nicht. Damit muss man leben. Aber man sich dazu entscheiden, ob man weiter hart verteidigt. Auf die Defense kann man sich verlassen."
Nach dem Charlotte-Spiel hat sein Team das bisher tatsächlich recht gut umgesetzt. Aktuell stellt Houston die siebtbeste Defense der Liga, forciert die fünftmeisten Turnover, was ihre größte offensive Stärke akzentuiert. Gerade mit seinen Bank-Lineups ist Houston athletisch und schnell, kann im Fastbreak ein dominantes Team sein, wie beispielsweise gegen Memphis gezeigt, als das Team im dritten Viertel binnen weniger Minuten einen 17:0-Run hinlegte und dabei Turnover um Turnover forcierte.
Die Tiefe bringt allerdings auch einige Hürden mit sich. Einerseits bekommen einige der Talente, gerade Whitmore (13,5) und Sheppard (9,5), eigentlich zu wenige Minuten, um an ihrem Spiel zu arbeiten. Und andererseits, was schwerer wiegt: Es gibt wenig Kohäsion in der Offense - es gibt eigentlich sogar verschiedene Identitäten, die miteinander zu konkurrieren scheinen.
In ihren besten Phasen fliegen die Rockets über den Court - Lineups mit beispielsweise Jalen Green, Whitmore, Thompson, Eason und Jabari Smith Jr. sind so schnell und athletisch, dass sie im Open Court kaum zu halten sind. Sengün ist dagegen eher ein Halbfeld-Spieler, der versucht, sich die gegnerische Defense zurechtzulegen; idealerweise braucht er dafür Platz, den hat er in Lineups mit beispielsweise Thompson und Eason allerdings nicht.
Über die ersten Saisonspiele tat sich Sengün schwer (14,8 Punkte, 38,6% FG), generell haben die Rockets aktuell große Probleme, wenn sie nicht zu schnellen Abschlüssen kommen und stattdessen Halfcourt-Offense spielen müssen. Sie holen viele Offensiv-Rebounds, immerhin; es sind aber auch viele verfügbar. Wobei sich Sengün nicht aus der Ruhe bringen lassen will.
"Es ist guter Druck", sagte er über seinen neuen 185-Millionen-Dollar-Vertrag. "Damit werde ich für den Rest meines Lebens umgehen. Ich bin einer der besten Spieler der Liga und muss den Druck aushalten. […] Ich weiß, dass es das Leben meiner Mitspieler erleichtert. Ich muss mich einfach anpassen. Den Read machen, den simplen Pass spielen, dann zum offensiven Brett gehen. Es wird viele Gelegenheiten für mich geben, mich an die Aufmerksamkeit zu gewöhnen."
Der Spieler, für den das Leben zum Saisonstart leichter aussieht, ist Sengüns Jahrgangskollege Green: Auch er unterschrieb kurz vor Saisonbeginn einen neuen Deal (3 Jahre, 105 Mio. Dollar, Spieler-Option im dritten Jahr) und ist bisher der wohl beste Rocket der neuen Spielzeit, mit Sicherheit der unterhaltsamste (28,8 PPG, 43,2% FG) für die Zuschauer.
Green ist selbst ein etwas widersprüchlicher Spieler, was auch sein Vertrag reflektiert: Das volle Vertrauen in sein Talent drückt der Deal nicht aus, sonst hätte er fünf Jahre bekommen - das Risiko, ihn kommenden Sommer zum Restricted Free Agent werden zu lassen, wollte Houston offensichtlich aber auch nicht eingehen.
Green hat Phasen, in denen er aussieht wie ein Superstar; sein Antritt zählt zu den fünf besten der Liga, er kann sich jederzeit von überall einen Wurf kreieren und diesen auch treffen, aktuell sind es 41,3% bei 11,5 Dreiern pro Spiel. Er ist aber auch ein Spieler, der die Performance seines Teams über seine ersten drei NBA-Jahre oft schlechter gemacht hat, was nicht nur der Defense, sondern auch seiner Wurfauswahl und seinem Tunnelblick geschuldet war.
Sein Saisonstart ist bisher stark - ein Spieler, der eher auf den eigenen Abschluss schaut und nicht unbedingt für flüssigen Teambasketball steht, ist Green indes noch immer. Wenngleich Udoka hier Fortschritte sieht: "Er kann immer das bekommen, was er haben will, entweder für sich selbst oder andere. Situationen, in denen er früher jemanden übersehen hat oder wo er in die Menge reingerannt ist, da spielt er jetzt häufiger den richtigen Pass."
Spieler | Position | 24/25 | 25/26 | 26/27 | 27/28 | 28/29 |
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Fred VanVleet | Guard | 42,8 | 44,9** | UFA | - | - |
Dillon Brooks | Forward | 22,3 | 21,1 | 20,0 | UFA | - |
Steven Adams | Center | 12,6 | UFA | - | - | - |
Jalen Green | Guard | 12,5 | 32,7 | 35,3 | 38,0* | UFA |
Reed Sheppard | Guard | 10,1 | 10,6 | 11,1** | 14,0** | RFA |
Jabari Smith Jr. | Forward | 9,8 | 12,4** | RFA | - | - |
Amen Thompson | Guard | 9,2 | 9,7** | 12,3** | RFA | - |
Jeff Green | Forward | 8,0 | UFA | - | - | - |
Jock Landale | Center | 8,0 | 8,0*** | 8,0*** | UFA | - |
Jae’Sean Tate | Forward | 7,6 | UFA | - | - | - |
Alperen Sengün | Center | 5,4 | 31,9 | 34,4 | 37,0 | 39,6 |
Aaron Holiday | Guard | 4,7 | 4,9** | UFA | - | - |
Tari Eason | Forward | 3,7 | 5,7** | RFA | - | - |
Cam Whitmore | Forward | 3,4 | 3,5** | 5,5** | RFA | - |
* Spieler-Option, ** Team-Option, *** nicht garantiert, UFA = Unrestricted Free Agent, RFA = Restricted Free Agent
Green ist ein Spieler, der eigentlich alle Tools dafür zu haben scheint, um ein echter Superstar zu werden - der gerade deshalb allerdings auch frustrieren kann, weil er diese Tools bisher nicht immer gewinnbringend zusammenfügen konnte.
Und der zur Disposition stehen könnte beziehungsweise schon stand; vergangene Saison soll ihn Houston für Mikal Bridges den Nets angeboten haben. ESPN-Insider Brian Windhorst zufolge sehen manche NBA-Executives auch seinen neuen Vertrag nicht als Vertrauensvorschuss, sondern als möglichen Trade-Chip an.
Zwar sollen die Rockets liga-intern signalisiert haben, dass sie "dieses Jahr" keinen größeren Trade machen werden, aber potenziell gibt es kaum ein interessanteres Team mit interessanteren Chips auf dem Markt - eben aufgrund der Widersprüche, aufgrund der vielleicht zu großen Anzahl an Talenten.
Mit ihren Ambitionen und ihren Möglichkeiten wirken die Rockets fast schon prädestiniert dafür, drei Talente gegen einen etablierten Star zu tauschen, beispielsweise. Kevin Durant wurde in der Offseason mal gehandelt; angeblich werfen die Rockets auch bereits ein Auge auf die Situation von Jimmy Butler, der im kommenden Sommer aus seinem Vertrag in Miami aussteigen könnte.
Diese beiden Spieler sind jeweils Mittdreißiger, eher nicht die typischen Ziele, die man mit jungen Teams im Aufbruch verbinden würde - aber es hat sich ja bereits gezeigt, dass Widersprüche in Houston derzeit nicht unbedingt die Ausnahme sind. Mit ihrer Vielzahl an (Extra-)Picks und jungen Spielern stehen ihnen im Prinzip jedenfalls alle Türen offen.
Und in der Zwischenzeit wird es wahrscheinlich noch einige Spiele geben, in denen sie vermeintliche Top-Teams mit ihrer Tiefe überrennen. Wahrscheinlich werden sie auch des Öfteren mal gewinnbare Spiele gegen vermeintlich schwächere Teams verlieren. Wie ein junges Team eben … auch wenn sie kein ganz normales junges Team sind.
Ole Frerks